Team Bittel
 

11.06.2014 - Double-Emotion-Run zum Nordkap  

Autor:  GottfriedOel   E-Mail: Gottfried.Oel@medbo.de
Letzte Änderung: 30.11.2014 16:48:41

Sog ins Nichts + Im Hier und Jetzt geborgen... 36km von Honnigsvag ans Nordkap



Es sind 2 eigenwillige Emotionen, die während eines einzigen Laufes erlebt wurden, gesichtet und geordnet durch Sprache und Text. Das menschliche Gefühl empfindet analog, nicht so sehr parallel, wie es den sicheren Formulierungen nach zu deuten wäre. Aber das Wesentliche, das mich die paar Stunden beschäftigt hat, ist erfasst. Zugegeben, manchmal macht die Reflexion am Schreibtisch ein Erlebnis erst verstehbar. Zuweilen ergänzt das phantastische Organ Gehirn etwas, verfälscht aber nicht.

Sog ins Nichts

Ich laufe an einem ungewöhnlichen Ort. Die Straße, der ich folge, führt ans Ende der Welt. Ich laufe nachts. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, es ist gleich 23.00 Uhr. Seit drei Stunden bin ich unterwegs. Ich laufe auf eine Sonne zu, die heute und noch Wochen danach nicht untergeht. Von Honningsvag (Honigbucht), der letzten menschlichen Siedlung geht der Weg durch eine einfache Welt, die man ungläubig anschaut und zu begreifen sucht: ein in der Höhe offener Himmel, nackte Erde, weite Schneefelder, im Sonnenlicht Fjorde von einer kalten unbewegten Schönheit. Die schmale Straße kurvt sich ein, führt die Höhen hinauf, schattenfinstere Taleinschnitte müssen durchlaufen werden, wo das Eismeer bis an die Straße heranblaut.

Auf die Hochebenen komme ich nur gehend, vor mir dehnt sich die Straße ins Nichts einer entleerten Landschaft: Weite Schneefelder, marsähnlicher Steinschutt, graue und rote Farben vom unaufhörlichen Licht intensiviert. Ferne überall und Leere, die ich durchlaufe. Unser normales Alltagsempfinden ist von Sinn erfüllt. Was wir tun, tun wir sicher und eindeutig. In unserem Empfinden gibt es keine Differenz zwischen Innen- und Außenwelt. Wir erleben uns normal als Einheit aus Empfinden und Verstehen.

Nun aber während des Laufens kommt mir zusehends der bewusste Kontakt mit dieser Welt abhanden. Ich verliere mich. Es sickert etwas ins bewertende Gefühl, was da nicht hingehört. Mein Selbstgefühl verändert sich, entzweit mich von meiner vertrauten Weltannahme. Erstaunt nehme ich dieses fremde Selbstgefühl in mir wahr. Die Fremdheit in mir steigt wie eine langsam einsetzende Flut. Ich fühle mich auf einmal deplatziert, ich gehöre nicht hierher, nicht in diese Stille, die ich doch nur störe. Sogar mein Atem, schwer hinausgeatmet in diese Fremdheit, erscheint mir nicht erlaubt, zu viel Lärm verursache ich damit. So ein Gefühl kenne ich nicht von früher. Von einem Himmel, der sofort in den Weltraum übergeht, werde ich aufgesogen. Die Erde, meine Vertraute, hält mich nur unsicher. Ein kalter Windstrom vom nahen Eismeer weht, es ist kalt unter dieser schweigenden Sonne, die unbeteiligt das karge Umland bescheint. Dabei bin ich doch mit großer Lust aufgebrochen das Kap als Läufer zu erreichen, und nun stellt sich ein Gefühl ein, dass ich so nicht erwartet habe. Was kann das ausgelöst haben?

Mehrmals muss ich, um mich selbst zu vergewissern, stehen bleiben, verorten, Zeitkoordinaten mir in Erinnerung rufen. Was für ein seltsames Gefühl in dieser ganz eigenartigen Welt, die mir keine Orientierung bietet: Die Sonne scheint, aber es ist tiefe Nacht, sonnenhell geflutete Nacht. Die Straße führt durch leeres Hochland. Wie lange bin ich unterwegs? Was passiert und wer bin ich? Mich überfällt es ganz einfach. Ich bleibe stehen, Schrecken ohne Angst spüre ich, schaue zurück, da ist nichts und niemand, meine Unmittelbarkeit zu den spürbaren Dingen geht mir verloren. Von der Straße weiche ich in die Schneefelder daneben ab, durchquere sie mühsam, reibe meine Hände rot, um wieder durch diese milchige Transparenz, die sich zwischen die Wahrnehmung und den Außendingen gelegt hat, hindurch zu fühlen. Mir fehlt auf einmal jedes Gespür. Ich kann nicht sagen, was es ist. Ich fühle die Dinge der Welt außerhalb meines Selbst so fremd, ich lange sie an, hebe einen Stein auf, aber ich spüre sie nur ungefähr. Ein Gefühl von Verlorenheit tritt an die Stelle intensiver Selbstwahrnehmung. Dieses spontane Abreißen von Sinn und Zugehörigkeit dauert nur kurz. Ich will so nicht bleiben in diesen verunsicherten Zustand. Um dem seltsamen Gefühl zu entkommen nicht mehr sicher zuhause zu sein in dieser Welt, deutend und bestimmend, hilft nur das Weiterlaufen. Vorwärtskommen, nicht erstarren, laufen, nicht an ein Ziel denken, hilft. Durch das Weiterlaufen, so spüre ich, komme ich auch mit meinen Gefühlen wieder in Bewegung, trete wieder ein in mein eigenes Haus, in dem ich wohne, meine Identität ist dort zuhause, mein läuferisches Ich. So kehre ich seltsam und ungewarnt wie ich da hinein geraten bin, aus dieser Selbstnichtwahrnehmung zurück. Die wieder gefundene und vertraute Balance zwischen äußerer Realität und konformer Wahrnehmung lässt mich – lautlos noch – zum ersten Mal erleichtert auflächeln. Mit sicher werdenden Schritten komme ich dem Kap näher.



Im Hier und Jetzt geborgen

Ich habe gedacht, wenn ich dem Nordkap näher käme, liefe ich über flaches Land. Zum wiederholten Mal habe ich eine Höhe erreicht. Es ist Anfang Juni und trotzdem laufe ich einem kalten Wind entgegen, friere jedoch nicht, zu besorgt habe ich warme Laufkleidung angezogen. Der Wind kühlt meine schwitznasse Stirn, die Sonne ist wunderbar. Hier muss man sich nicht ängstigen von hereinbrechender Finsternis überrascht zu werden. Chronometrisch ist es tiefe Nacht. Die Sonne erscheint mir als Quell der Freude, die sich lebensspendend öffnet, ich reagiere mit Wachstum. Die Entfernungsschilder versprechen mir alle fünf Kilometer die Verkürzung zum Ziel. Noch 15 km. Aber wie lange sind 15 km in diesem Leerland?

Es wird auf Mitternacht zugehen, ich müsste jetzt bald zum Kap kommen. Birgit erwartet mich dort. Sie hat Geburtstag und auf sie und den Sekt, der in ihrer Tasche der freudigen Öffnung harrt, freue ich mich. Nach dem intensiven Erlebnis vor einer Stunde, wo ich mich sonderbar verloren in diesem Land mit zu viel Raum fühlen musste, dominieren nun heftige Gefühl der Bejahung. Meine Freude hier zu sein, prickelt wie Kohlensäure im Mineralwasser. Die Laufbewegung erfüllt mich ganz und gar mit unbändiger Kraft, versetzt mich in einen regelrechten Freiheitstaumel. Die Zeit vergeht, wie auf einer Lichtgeschwindigkeitsreise, spürbar langsamer wie sonst. Der flüchtige Augenblick ist zum dauerhaften Moment verzögert. Das Laufen befreit mich mehr und mehr bei steigender Müdigkeit. Im Rucksack trage ich ein Bier mit mir. Ich stelle es noch kurz in den Schnee, dann wird es genussvoll gezischt.

Die landschaftliche Kargheit, die sich von den offenen Rändern der Nordkappstraße bis in die Unendlichkeit des Sehens ausdehnt, ist schön. Mit überfließendem Gefühl und so seltsam sorgenfrei unter einer Sonne, der man erst vertrauen muss nicht unterzugehen, ist Laufen in dieser Leere, die genau durch ihre Leere alle Aufmerksamkeit fesselt, unüberbietbar. Es ist die Faszination des dritten Schöpfungstages. Nur das Licht ist erschaffen und nackten Erdenraum. Ich fühle mich zurückversetzt an den Anfang der Zeit. Was macht einen so selbstvergessen im Moment des Laufens, wenn man allein in dieser Stille der Nacht, die aber heller Tag ist, unterwegs ist? Doch jetzt bin ich hier: Gehobenes Land, vom Gletscherpanzer befreit, seit Jahrtausenden sich aufhebend aus dem Meer, Millimeter pro Jahr, geglättete, matt spiegelnde Wasserflächen, begrenzter, eingefangener Meerraum in Buchten und blauen Klüften, die das Inland zerschneiden. Klotzige Steinküste, getürmte Felswände von faszinierender Rohheit, anlandungsfähige Buchten mit kargen Bewuchs, wo rote Holzhäuser ganz lieblich und wie aus Schüchternheit weit voneinander entfernt errichtet leuchten. Keine Menschen habe ich angetroffen, schönes leeres Land. Renntiere erschrecke ich, die dummerweise immer an der Straße entlang fliehen und vor mir davonlaufen, anstatt in die Hänge hinunter auszuweichen. Die Bewegung trägt mich, ein freies und unabhängiges Gefühl setzt sich ins Empfinden, verdrängt die Sorge als Läufer besonders schutzbedürftig zu sein. Ich folge der Straße müder werdend mit großer Lust. Diese Straße führt mich zu einem magischen Ziel. Das Nordkap, wo alle europäischen Wege enden, das Eismeer beginnt und das Ende der Welt anfängt.

Um eine Kurve gekommen, sehe ich die weiße Kuppel des Nordkapphauses, ausgedehnte Parkplätze und dahinter das weite Felsplateau des Kaps. Zur rechten Seite sehe ich eine im Grau verschwindende Steilküste: Europas Ende. Über den tief ins Inland geschnitten Fjord blendet mich um Mittnacht eine noch hoch über den Horizont stehende Sonne. Es ist so wunderbar. Birgit meldet sich über das Handy. Gleich, gleich bin ich da, erfüllt, erstaunt, überrascht, dankbar, gewandelt, Erfahrungen reicher.

Euer Gottfried
 
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